Hat ein Versicherungsnehmer nach Eintritt der Berufsunfähigkeit und Aufnahme der Leistungen durch die Berufsunfähigkeitsversicherung eine neue Beschäftigung aufgenommen, so stellt sich im so genannten Nachprüfungsverfahren regelmäßig die Frage, ob er eine seiner Ausbildung und Erfahrung entsprechende andere Tätigkeit aufgenommen hat, so dass die Berufsunfähigkeitsversicherung nach Durchführung eines Berufsvergleichs eine konkrete Verweisung vornehmen und in der Folge die Leistungen einstellen darf. Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 30.12.2011 – Aktenzeichen: 12 U 140/11) hatte sich mit folgender Konstellation zu befassen:
Ein Handwerksgeselle hatte nach Eintritt der Berufsunfähigkeit in seinem erlernten Beruf eine Hausmeistertätigkeit an einer Schule aufgenommen. Neben Tätigkeiten, die handwerkliche Fähigkeiten und Qualifikation erfordern, musste er in beträchtlichem Umfang Tätigkeiten ausführen, die weder besondere handwerkliche Qualifikation noch Organisationsvermögen, Flexibilität oder soziale Kompetenz erfordern (Ausgabe von Materialien, Botendienste, Leeren der Mülleimer, Rasenmähen etc.). Handwerklichen Arbeiten kam daneben nur relativ geringes Gewicht zu – außerdem waren häufig besondere Fähigkeiten nicht erforderlich, es handelte sich oftmals um Verrichtungen, welche auch Laien in der eigenen Wohnung zu erledigen pflegen. Der einzige Bezug zu seinem erlernten Beruf (Maler) bestand darin, Schulkinder gelegentlich bei Malerarbeiten anzuleiten. Aus diesem Grunde gelangte die Vorinstanz nach dem Berufsvergleich zu dem Ergebnis, dass der Versicherungsnehmer keine vergleichbare Tätigkeit ausübte und lehnte die konkrete Verweisung ab.
Dies wollte die Berufunfähigkeitsversicherung nicht akzeptieren und legte Berufung unter anderem mit der Begründung ein, dass bei einem Berufsvergleich zur Prüfung der konkreten Verweisung Fähigkeiten, die der Versicherunsnehmer gerade aufgrund seiner Berufsunfähigkeit nicht mehr nutzen könne, unberücksichtigt bleiben müssten, weil es ja ansonsten überhaupt keine vergleichbare Tätigkeit geben könne.
Das Oberlandesgericht folgte dieser Argumentation hingegen nicht: wenn man grundsätzlich Fähigkeiten, die der Versicherungsnehmer leidensbedingt nicht mehr nutzen kann, bei dem Berufsvergleich außer Betracht ließe, würde der durch die Berufsunfähigkeitsversicherung angestrebte Zweck weitgehend entwertet. Jeder Handwerker, der „nur“ die mit seinem erlernten Beruf verbundenen Tätigkeiten nicht mehr ausüben könne, könnte dann prinzipiell auf jede andere Tätigkeit verwiesen werden. Die Berufsunfähigkeitsversicherung greife bei dieser Sichtweise mehr oder weniger nur dann, wenn der Versicherungsnehmer überhaupt nicht mehr arbeiten kann. Die Berufsunfähigkeitsversicherung sei aber eben keine Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Die konkrete Verweisung sei deshalb nur dann zulässig, wenn der Berufsvergleich ergebe, dass der Versicherungsnehmer seine erlernten Fähigkeiten auch in dem neu ergriffenen Beruf in relevantem Umfang nutzen könne. Durch diese Sichtweise werde die so genannte konkrete Verweisung in den Versicherungsverträgen entgegen der Auffassung der Berufsunfähigkeitsversicherung auch nicht inhaltsleer. Schließlich verlange dies ja nicht, dass bei der konkreten Verweisung ein Berufsvergleich nur dann im Sinne der Versicherung ausfällt, wenn im neuen Beruf sämtliche erlernte Fähigkeiten zum Tragen kommen müssen – dann läge nicht nur ein vergleichbarer sondern derselbe Beruf vor.
Das Oberlandesgericht folgte also im konkreten Fall der Sichtweise, dass die konkrete Verweisung unzulässig war: der Berufsvergleich ergab, dass die Tätigkeit als Handwerksgeselle und die Tätigkeit als Schulhausmeister nicht vergleichbar sind.
Da auch dieses Ergebnis sich auf die konkrete individuelle Tätigkeitsbeschreibung des Versicherungsnehmers stützt, die er im Rahmen seiner Anhörung in der ersten Instanz abgegeben hat, bewahrheitet sich wieder einmal: akzeptieren Sie die Leistungseinstellung der Berufsunfähigkeitsversicherung nach Aufnahme einer neuen Tätigkeit nicht unwidersprochen. Lassen Sie in Ihrem konkreten Fall von unabhängigen Fachleuten einen Berufsvergleich vornehmen, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob Ihnen die Leistungen auch weiterhin – trotz neuer Tätigkeit – zustehen.
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Die abstrakte Verweisung ist bei den aktuellen Versicherungstarifen nur noch selten zu finden, Standard allerdings in