Wieder und wieder stellt sich die Frage der Bedeutung der Kulanz: nicht nur aber gerade auch im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung wird der Begriff der Kulanz bemüht, um eine Leistung zu gewähren – etwa übergangsweise für einen befristeten Zeitraum – andererseits aber gerade ein Anerkenntnis der dauerhaften Verpflichtung zur Zahlung zu vermeiden – sich möglicherweise überhaupt nicht in der Verpflichtung zu sehen. Bei dieser Vorgehensweise wird ein eindeutige Entscheidung vermieden. Eine vergleichbare Konstellation war Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem Landgericht Potsdam:
Ein als Finanzberater tätiger Akademiker hatte mit psychischen Beeinträchtigungen (Burnout-Syndrom, erste depressive Episoden) zu kämpfen und wurde arbeitsunfähig krank geschrieben. Nach einigen Monaten wurde eine teils ambulante teils stationäre psychiatrische Behandlung in einer Klinik durchgeführt. Nach insgesamt sechs Monaten beantragte er bei seiner Berufsunfähigkeitsversicherung die vertraglich zugesagte Leistung. Nach weiteren drei Monaten der Prüfung des Antrags bot die Berufsunfähigkeitsversicherung dem Kunden ohne Anerkenntnis einer Rechts- und Leistungspflicht eine Vergleichsvereinbarung an. In dieser Vereinbarung hieß es: „Die … AG leistet mit Blick auf die besonderen Umstände des Sachverhalts und auf dem Kulanzwege sowie mit Rücksicht auf die Interessen des Versicherungsnehmers ohne Anerkennung einer Rechts- und Leistungspflicht für den Zeitraum von … bis … die für den Fall der Berufsunfähigkeit bedingungsgemäß versicherten Leistungen …“. Der Kunde nahm dieses Angebot, durch welches ihm für etwas mehr als ein Jahr die Leistungen zugesagt wurden, an. Nach Ablauf dieses Zeitraumes, kehrte der Kunde aber nicht an seinen Arbeitsplatz zurück. Er wurde von der Berufsunfähigkeitsversicherung deshalb erneut zu seinem Gesundheitszustand befragt und auch ärztlich begutachtet. Schließlich stellte die Berufsunfähigkeitsversicherung die Leistung ein.
Der Kunde hingegen verlangte auch künftig die Leistung unter anderem mit dem Argument, die Berufsunfähigkeitsversicherung habe durch die getroffene Vereinbarung ein Anerkenntnis hinsichtlich ihrer dauerhaften Verpflichtung zur bedingungsgemäßen Zahlung abgegeben.
Das Landgericht Potsdam (Urteil vom 27.09.2012 – AZ.: 6 O 311/119) bestätigte diese Auffassung des Kunden, so dass es auf das streitige Ergebnis der erneuten Begutachtung gar nicht mehr ankam: die Berufsunfähigkeitsversicherung müsse sich so behandeln lassen, als habe sie ein Anerkenntnis ihrer dauerhaften Verpflichtung zur Zahlung abgegeben, auch wenn ein wörtliches Anerkenntnis in der Vereinbarung nicht auftaucht. Kulanz stehe dem nicht entgegen. Die Berufsunfähigkeitsversicherung habe die Leistungen zu Unrecht eingestellt.
Dieses Ergebnis begründete das Gericht damit, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung sich mit der von ihr vorgeschlagenen Vereinbarung um die in ihren eigenen Versicherungsbedingungen eigentlich vorgesehene Verpflichtung zur unverzüglichen Erklärung über ihre Leistungspflicht herumgedrückt habe. Sie habe nämlich weder im Begleitschreiben noch in der Vereinbarung eine klare Position dazu bezogen, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nun vorliegt oder nicht. Der von der Berufsunfähigkeitsversicherung gewählte Weg einer so genannten individualvertraglichen Vereinbarung sei deshalb gerichtlich voll darauf überprüfbar , ob die darin enthaltene Beschränkung der bedingungsgemäßen Rechte des Kunden auf seiner freien Entscheidung oder aber auf der treuwidrigen Ausnutzung der überlegenen Verhandlungsposition der Berufsunfähigkeitsversicherung beruhen. Mit dieser Formulierung verweist das Landgericht auf die Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 30.03.2011 – Az.: IV ZR 269/08).
Auf Kulanz könne die Versicherung sich nicht berufen: sie habe es förmlich vermieden, ein nach der Sachlage gebotenes Anerkenntnis ihrer Verpflichtung zur Leistung abzugeben und sich durch die Vereinbarung gar eine weitere Überprüfung vorbehalten, ohne den vertraglich vorgesehen Weg des Nachprüfungsverfahrens zu beschreiten. Damit erhalte der Kunde deutlich weniger, als ihm eigentlich zustehe. Dies wisse die Berufsunfähigkeitsversicherung kraft ihrer überlegenen Kenntnis auch und nutze so die unterlegene Position des Versicherungsnehmers treuwidrig zu ihren Gunsten aus, obwohl gerade im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung mit ihrer existenziellen Bedeutung der Versicherer nach Treu und Glauben in besonderer Weise gehalten sei, seine überlegene Sach- und Rechtskenntnis nicht zum Nachteil des Kunden auszunutzen. Auch insoweit verweist das Landgericht auf eine gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
Nehmen Sie dieses Urteil zum Anlass, Ihre eigene Vereinbarung mit Ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung darauf überprüfen zu lassen, ob trotz des Hinweises auf Kulanz nach Maßgabe der Rechtsprechung ein Anerkenntnis der dauerhaften Verpflichtung zur Zahlung abgegeben worden sein könnte. Möglicherweise haben Sie wider Erwarten doch Anspruch auf dauerhafte Leistung der Versicherung, ohne sich erneut begutachten zu lassen.
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